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Über den Mut sich selbst zu lieben

separee
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Jona Rahel Armborst

Eines meiner Lieblingszitate ist seit Jahren „It takes courage to grow up and become who you really are.“ von dem Dichter und Schriftsteller E.E. Cummings. Dieser Satz berührt mich so sehr, da ich in den vergangenen Jahren immer mehr erfahren habe, dass viel Mut dazu gehört, sich selbst wirklich kennenzulernen und anzunehmen. Es geht darum, vieles von dem, was ich als gegeben ansehe, in Frage zu stellen. Wer bin ich, wenn ich all die Schichten, die durch Erziehung und Erwartungen von außen entstanden sind, nach und nach wie eine Zwiebel von mir schäle? Wer ist dieser Mensch, der ich eigentlich bin oder im Laufe meines Lebens werden möchte? Und wie bekomme ich Antworten auf diese Fragen?

  • Text: Jona Rahel Armborst
    Fotos: analogicus/pixabay, by-studio/stock.adobe.com

Erstmal galt es für mich herauszufinden, was ich denn überhaupt denke: Welche Überzeugungen habe ich über mich als Person mit all meinen Stärken, Schwächen und Bedürfnissen? Wer entscheidet, ob ich liebenswert, erfolgreich, zufrieden und auf dem „richtigen“ Weg bin? Viele, viele Jahre suchte ich die Bestätigung dafür im Außen. Und je öfter ich merkte, dass diese Vorgehensweise wenig Halt bietet und eher Enttäuschungen mit sich bringt, kam ich auf die Idee, dass ich meine Perspektive verändern könnte. Denn so lange ich die Antworten im Außen suche, bin ich abhängig von Anderen. Das gibt mir wiederum ein Gefühl von Ohnmacht und Unsicherheit. Und gleichzeitig ist es doch paradox: Wieso sollte jemand im Außen einschätzen können, was für mich persönlich das Beste ist, sei es in der Liebe oder im Job.

Und so fing ich an, die Antworten in mir selbst zu suchen. Was macht mich eigentlich wirklich glücklich? Wonach sehne ich mich? Diese Herangehensweise war ungewohnt und vor allem unbequem. Ich habe mich immer gerne als eine sehr emphatische Person gesehen, die unglaublich gut darin ist, die Stimmungen und Bedürfnisse anderer zu spüren und ihnen ein gutes Gefühl in meiner Nähe zu geben. Die Veranlagung war vermutlich schon da, aber richtig gut wurde ich darin erst im Laufe meiner Kindheit und Jugend, wenn es darum ging, meine alleinerziehende Mutter zu unterstützen. In dieser Zeit schlussfolgerte ich für mich, dass Liebe bedeutet, Verantwortung für Andere und auch deren Gefühle zu übernehmen. Ein Muster, welches sich im Laufe der kommenden Jahre auch durch meine Liebesbeziehungen zog. Zusätzlich brachte ich ausgeprägte Verlustängste mit, die meinen Fokus eher auf Männer richteten, die emotional nicht so verfügbar waren.

Aufgewachsen in dem tiefen Glauben, dass ich mir alles hart erarbeiten muss, gab mir das genügend Antrieb, um mir selbst immer wieder zu bestätigen, dass ich mir Liebe und Bestätigung ebenfalls erst verdienen müsse. Natürlich suchte ich mir dann männliche Exemplare, die genau diesen „Arbeits-Modus“ in mir triggerten, was mit sich brachte, dass ich immer mehr im Kontakt mit den Bedürfnissen meines Gegenübers war als mit meinen eigenen. Erst mit Anfang 30, als ich gerade dabei war, meinen beruflichen Weg als Coach einzuschlagen und mich dadurch noch intensiver mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigte, kam ich zu der Erkenntnis, dass all mein Bestreben darauf abzielte zu kämpfen. Es war zu meinem unbewussten Lebensmotto geworden. Tief in mir glaubte ich, mir die Liebe eines Mannes erarbeiten zu müssen. Erst viel später verstand ich, dass ich nur so viel Liebe geben und empfangen kann, wie ich mir selbst gegenüber empfinde. Erst wenn ich wirklich daran glaube, dass ich die Liebe um meiner selbst Willen verdient habe, ebne ich den Weg für eine Liebe auf Augenhöhe. Und der erste Schritt zu mehr Selbstliebe war es, ehrlich zu mir zu sein und mich ernsthaft mit meinen Wünschen und Sehnsüchten auseinander zu setzen. Mich nicht länger zu verurteilen, sondern mir selber Wertschätzung entgegen zu bringen. Durch diesen Prozess wurde mir klar, dass ich bisher meinen Partner dafür verantwortlich gemacht hatte, meine Bedürfnisse zu erfüllen, dabei hatte ich sie selber nicht mehr ernst genommen.

Stattdessen erzählte ich mir „man kann eben nicht alles haben“ oder „ich will zu viel“, um nur ein paar meiner Glaubenssätze zu nennen. Was man sich lange genug einredet, glaubt man irgendwann selber. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ausblenden und mir wurde klar, dass die logische Konsequenz in Bezug auf die Anerkennung meiner Bedürfnisse eine Trennung bedeuten würde. Denn die komplette Verantwortung für mich und meine Wünsche zu übernehmen, fing genau hier an: Wenn ich mich selbst mehr lieben wollte als mein Gegenüber, dann musste ich mir eingestehen, dass wir unterschiedliche Wünsche an eine Beziehung haben. An dieser Stelle kamen von außen Ratschläge, wie „Du musst den Anderen so akzeptieren, wie er ist.“ Und das stimmt so auch, aber vor allem geht es darum, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Und mich mit all meinen Sehnsüchten und Wünschen zu umarmen. Mir sie nicht auszureden oder sie abzutun, sondern ehrlich anzusehen. Sie sind ja schließlich nicht ohne Grund in mir und versuchen sich Gehör zu verschaffen.

Wir sind es häufig selber, die wir uns erzählen, dass bestimmte Dinge nicht gehen, dass unsere Wünsche zu abgehoben oder zu unrealistisch sind. In erster Linie erreichen wir damit nur eins: Wir bleiben hinter unseren eigenen Möglichkeiten zurück. Das gilt sowohl für unsere Partnerschaften, als auch für unseren beruflichen Weg. Wie heißt es so schön: „You are your only limit.“ Möglicherweise haben wir es im Laufe der Jahre verlernt, uns wirklich zu fragen, was wir uns wünschen. Aber die gute Nachricht ist: Wir können es wieder lernen. Und ja, es kostet Mut. Vielleicht wären wir überrascht, welche Antworten sich zeigen, wenn wir uns neugierig und ehrlich die Frage stellen würden: Wonach sehne ich mich in der Liebe? Was wünsche ich mir im Sexuellen? Und die Antwort und uns nicht gleich zu verurteilen, sondern erstmal anzunehmen. Vielleicht ist sie ungewöhnlich, gar abseits der Norm. Vielleicht macht sie uns auch Angst, weil sie uns überfordert und wir uns kaum trauen, diese Gedanken zu denken – aufgrund von Scham oder Schuldgefühlen. Dabei verbirgt sich hinter unseren unerfüllten Wünschen und Sehnsüchten soviel Potential, sich selber besser kennenzulernen und weiterzuentwickeln.

Nach einer gewissen Zeit der Trennungs- und Trauerbewältigung spürte ich förmlich, wie ich immer mehr bei mir selbst ankam. Die Energie, die ich all die Jahre in die Beziehung gesteckt hatte, konnte ich nun für mich nutzen. Ich lernte mich neu kennen und durfte mit Überraschung feststellen, wie sich alte Sehnsüchte von meinem früheren Ich wieder meldeten, die ich über die Zeit ganz vergessen hatte. Die Bedürfnisse, die ich lange abgetan hatte, bekamen so die Chance, sich wieder bei mir zu melden. In der Vergangenheit hatte ich z.B. meine Neugier auf Dreier-Erlebnisse und ein offenes Beziehungsmodell geäußert. Da diese Wünsche nicht auf fruchtbaren Boden gefallen waren, blieb es immer bei der Theorie. Und je mehr ich dieses Interesse in mir akzeptierte, desto offener ging ich mit mir und vor anderen damit um. Bis dahin, dass ich einen Menschen kennenlernte, der ebenfalls auf einer Reise zu einem Leben nach seinen Bedürfnissen war. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so stark in Kontakt mit meinen eigenen Bedürfnissen war und diese offen kommunizierte.

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Wie der Prozess weiter verlief, lesen Sie in Séparée No.28.

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