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Seelentod

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Aurelia Glück

Aurelia Glück ist ein Pseudonym. Ich habe es gewählt, um meine Tochter und mich zu schützen, wenn ich will nicht schweigen. Lange habe ich mich gefragt: Ist es ratsam, über Missbrauch zu schreiben, damit an die Öffentlichkeit zu gehen? Habe ich die nötige Distanz zum Thema? Und vor allem, kann ich es verkraften, dass das bestgehütete Geheimnis meines Lebens für immer mit mir in Verbindung gebracht wird? Wie bei allen Missbrauchsopfern ist die Scham das am tiefsten in meiner Psyche eingebettete Lebensgefühl. Das will ich nicht immer wieder aktivieren. Wenn ich mir anschaue, wie die Medien mit dem Thema umgehen, kann es gut oder schlecht für mich ausgehen. Es führt kein Weg an einem Pseudonym vorbei.

  • Text: Aurelia Glück
    Foto: MariangelaCastro_Pixabay

Meine Schwester Vera ist drei Jahre älter als ich. Mir fiel in unserer Familie die Rolle des hochbegabten Zirkuspferdes zu, sie erhielt die Rolle des „Doofi“. Nie standen wir uns so nahe, wie ich mir das gewünscht hätte. Missbrauch macht einsam. Wir kommen aus einer Großfamilie. Fünf Mädchen, zwei Jungs. Vier von uns Mädchen wurden sexuell missbraucht. Meine Schwestern hüten ihre schamvolle Geschichte wie die Queen ihre Kronjuwelen. Missbrauch bleibt das bestgehütete Geheimnis der Gesellschaft. Bei mir lösen sich ihre Zungen. Ich bin anders, aber eine von ihnen. Sie wissen, dass ich regelmäßig therapeutisch in die Hölle meiner Kindheitserlebnisse reise und Mechanismen entwickelt habe, dem dort wütenden Feuer mit mäßigen Verbrennungen zu entkommen. Dann lecke ich meine Wunden und ziehe erneut los, um mir ein weiteres Stück meiner Seele zurück zu holen. Ich will wissen, verstehen und das Unfassbare in Worte fassen. So wurde ich zum Auffangbecken meiner Familie für alles Unaussprechliche. In dem Maße, wie ich den Missbrauch einem inneren Stoffwechselprozess unterziehe, ergibt das Leben vielleicht wieder einen Sinn und ich kann mit haltgebenden Worten das Verrücktwerden für uns alle eine Armlänge auf Distanz halten. Mein Aufnahmegerät läuft.

Aurelia: Magst du mir vom Missbrauch erzählen?

Vera: Missbrauchserlebnisse hatte ich mehrere. Ich glaube, ich habe fast alles verdrängt. Vielleicht ist das auch gut so, sich nicht mehr zu erinnern. Woran ich mich erinnere: Eine Zeitlang habe ich oft bei unserer älteren Stiefschwester und ihrem Mann übernachtet und die Ferien dort verbracht. Ich weiß nicht mehr, ob er mich angefasst hat oder ob er knutschen wollte. Ich weiß nur noch, dass er Annäherungsversuche gemacht hat. Danach wollte ich da nie mehr hin.

Dann war da noch der Sohn von Papas zweiter Frau. Wir waren abends immer mit den Hunden im Park. An einem Abend erzählte ich ihm, dass ich Geld für Schulbücher brauchte. Da Papa und meine Stiefmutter ja nie Geld hatten, gab er mir welches. Anschließend legte er den Arm um mich. Das fand ich völlig in Ordnung. Er war ja mein Bruder. Doch dann wollte er mich küssen. Da wusste ich: Nein, das geht nicht. Das will ich nicht. Ich bin nie mehr mitgegangen und hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen meiner Stiefmutter gegenüber. Er hat den Vorfall vielleicht irgendwann vergessen. Im Gegensatz zu mir.

Aurelia: Ich erinnere mich an eine Situation, wo ich dich sehr bewundert habe. Ich schlief in unserem Etagenbett, ich unten und du oben. Eines Nachts kamen Mama und ihr Freund Jupp besoffen aus der Kneipe. Die Tür zum Kinderzimmer sprang auf. Plötzlich war das Zimmer hell erleuchtet und dann diskutierten sie an unserem Bett. Sie wollten dich mit ins Schlafzimmer nehmen. Es wurde laut und bedrohlich und ich hatte große Angst. Dann sind sie wieder gegangen. Ich weiß noch, wie mutig ich dich fand, dass du nicht mitgegangen bist. Naiv wie ich mit vier Jahren war, wäre ich gegangen.

Vera: Ich glaube, Jupp wollte mir einen Kuss geben. Ich habe gesagt: „Nein!“ Daraufhin hat er mich angerotzt. Mitten ins Gesicht. Mama stand dabei, hat aber später vor Gericht ausgesagt, dass er gehustet hätte. Ich weiß nicht, ob es vor oder nach diesem Vorfall war, als der eigentliche Missbrauch passierte: An einem Morgen wollte ich aus irgendeinem Grund nicht in die Schule. Ich war in der ersten Klasse. Ich ging ins Schlafzimmer, um Mama zu wecken. Die war wie immer besoffen und schlief tief und fest. Da meinte Jupp: „Du brauchst nicht in die Schule zu gehen. Komm, leg dich hier hin.“ Er hob die Decke und ich legte mich darunter, zwischen Mama und ihn. Dann nahm er meine Hand, legte seine darüber und steckte seine andere in meine Unterhose. Dann musste ich ihm einen runterholen. Als er fertig war, bin ich aufgestanden. Ob ich aufstehen durfte oder ob er mich wegschickte, weiß ich nicht mehr. Ich ging in die Küche und kochte Kaffee. Da kam er zu mir und meinte: „Deine Mama weiß Bescheid, es ist alles okay.“ Es war Gott sei Dank nur das eine Mal. Kurz danach bin ich von Zuhause abgehauen und kam bei Papa unter. Auch heute noch frage ich mich manchmal: Mama kann das doch gar nicht gewusst haben. Sie war doch besoffen.

Aurelia: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Mama geweckt hat, um ihr zu erzählen, was passiert ist. Sie hat mir später einmal erzählt, sie sei diesem Mann hörig gewesen. Ich habe nie verstanden, was Hörigkeit bedeutet. Aber dass es nicht richtig sein kann, wenn eine Mutter tatenlos zusieht, wie Männer solche Dinge mit ihren Töchtern tun, war mir immer klar. Sie muss ihm innerlich zugestimmt haben. Sonst hätte sie ihn ja vor Gericht nicht gedeckt.

Vera: Schlimm finde ich, dass sie daneben lag und nichts mitbekommen hat.

Aurelia: Hast du dich dann bei Papa sicher gefühlt?

Vera: An Papa kann ich mich kaum erinnern. Manchmal glaube ich, Papa war für mich wie ein Fremder.

Aurelia: Wie verlief die Beziehung zu deinem Mann? Ihr wart ja 25 Jahre zusammen. Ich habe nie mehr als sechs Jahre durchgehalten, bevor ich aus Bindungen flüchten musste.

Vera: Jens hat mich immer untergebuttert. Als ich mit Bella schwanger war, wollte ich mit ihm kuscheln. Und seine Antwort war: „Geh weg, du bist zu fett.“ Obwohl er mich so oft verletzt hat, ist er mir immer noch sehr vertraut. Ich komme nicht von ihm los, obwohl wir schon 10 Jahre getrennt leben. Einmal habe ich mit ihm geschlafen und sein Sperma roch genauso wie das von Jupp damals. Danach konnte ich monatelang nicht mehr mit ihm schlafen, weil ich den Geruch immer in der Nase hatte.

Aurelia: Hast du Jens erzählt, dass du missbraucht worden bist? Er wird sich doch gewundert haben.

Vera: Ich kann mich besser mit Frauen als mit Männern unterhalten. Ich überlege zu viel und habe Angst, mich mit einem Mann zu unterhalten. Den Floh hat Jens mir mit dem Spruch ins Ohr gesetzt: „Was du erzählst, das will doch sowieso keiner wissen.“ Das ist so in mir drin.

Aurelia: Wie haben sich deine Missbrauchserfahrungen auf deine Kindererziehung ausgewirkt?

Vera: Ich hatte immer Angst, meine Tochter mit ihrem Opa oder mit Jenss Freund allein zu lassen, der ziemlich oft bei uns war. Sie war schüchtern. Ich glaube, sie hätte nie verraten, wenn etwas passiert wäre. Ich konnte es nicht einmal ertragen, dass sie mit ihrem Vater allein war. Ich vertraue Männern einfach nicht. Ich habe jeden Tag auf die Zeichen geachtet, ob es passiert sein kann.

Aurelia: Die Angst hatte ich auch. Als meine Kleine ein Baby war, war es eine Qual für mich, mir vorzustellen, dass ihr Vater mit ihr badet. Ich sah nur das Bild vor mir, dass sie in der Wanne auf seinem Schoß sitzt. Da war der Missbrauch wieder voll in meinem Gefühl. Denn das war es, was Jupp von mir verlangt hat. Mein Ex hat mir nie verziehen, dass ich ihm so misstraut habe. Aber ich weiß einfach, wozu Männer in der Lage sind und dass man niemandem hinter die Stirn schauen kann.

Wissen deine Kinder, dass du missbraucht worden bist?

Vera: Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Und deine Kleine?

Aurelia: Sie weiß, dass von Männern eine mögliche Gefahr ausgeht und dass sie niemandem zu schnell vertrauen sollte. Ich möchte ihr nicht das Vertrauen in die Welt nehmen, aber ich musste ihr sagen, dass nicht jeder Mensch gut ist und dass es Männer gibt, die Sex mit Kindern haben wollen, obwohl das ein schlimmes Verbrechen ist. Das kam durch ihre Fragen bei unseren Aufklärungsgesprächen zur Sprache. Ich habe ihr erzählt, dass die Wunde, die ein Missbrauch verursacht, so groß ist, dass man mehr als ein Leben braucht, um sie wieder zu heilen. Meine Therapeutin meint, ich hätte einen guten Sensor für Übergriffe und dass ich es früh genug merken würde, wenn Gefahr besteht. Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir ein vertrauensvolles Verhältnis behalten und sie das Gefühl hat, ich bin immer da, um sie zu beschützen. Du hast nie eine Therapie gemacht, oder?

Vera: Nein. Ich kann mich ja an kaum etwas erinnern.

Aurelia: Willst du denn noch mal eine Beziehung führen?

Vera: Ich würde schon gerne. Aber ich kann Männern nicht sagen, was ich will und habe Hemmungen. Früher, wenn ich ausgegangen bin und mich sprach ein älterer Mann an, habe ich Hass bekommen, richtig Hass. Mich haben alle Männer an Jupp erinnert. Wenn mich ein älterer Mann anspricht, sehe ich auch heute noch rot. Obwohl ich ja inzwischen selbst nicht mehr jung bin. Ich habe einfach immer Angst. Immer.

Aurelia: Ich weiß. Wir leben mit derselben Angst. Der Angst vor Männern. Der Angst vor weiteren Übergriffen. Der Angst davor, dass wir unsere Kinder durch unser Misstrauen gegenüber Männern schwächen und Tätern somit Tür und Tor öffnen, wo wir doch nur eines wollen: Unsere Mädchen vor denselben Erfahrungen schützen, die wir machen mussten, weil unsere Mutter nicht auf uns aufgepasst hat.

Kurze Zeit nach unserem Gespräch erhielt Vera eine Krebsdiagnose. Innerhalb eines halben Jahres wurden ihr die Gebärmutter, ein Lymphknoten und eine Brust entfernt. Zuerst dachte ich: Das ist das Gift, das nicht verstoffwechselt wurde. Das passiert Frauen, die der Missbrauch von innen auffrisst. In meiner Welt macht das Sinn. Brust- und Gebärmutterkrebs als körperlicher Ausdruck einer Geschichte voller Angriffe auf ihre Weiblichkeit. Doch Vera sieht hier keinen Zusammenhang. Es ist immer noch leichter, sich der Gesellschaft mit einer Krebserkrankung zu zeigen, denn als Überlebende sexuellen Missbrauchs.

In Séparée No.22 haben wir dem Thema sexueller Missbrauch einigen Raum gegeben, denn es wird immer noch zu viel darüber geschwiegen. Neben dem Gespräch der beiden Schwestern finden Sie in der Herbstausgabe noch weitere Texte und Hilfsangebote.

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