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Lust als Last

separee
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Ava Weis

Frauen, die gerne und oft Sex haben, werden meistens schräg angeschaut und auch heutzutage noch als Schlampen bezeichnet. Männer hingegen sind Aufreißer. Das ist zum einen sexistisch und zum anderen gefährlich, wenn es sich nicht nur um einen ausgeprägt hohen Sexualtrieb handelt, sondern um Sexsucht. Die Skandalisierung ist hoch, das Schamgefühl ebenfalls. Eine nüchterne Informationslage dagegen ist dünn gesäht.

  • Text: Ava Weis
    Foto: Erika Lust

Schätzungen zufolge leiden in Deutschland etwa 500.000 Menschen an Hypersexualität, so der Fachausdruck, wiederum 20 Prozent davon sollen Frauen sein. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Die Dunkelziffer könnte also weitaus höher liegen. Der Unterschied zum hohen Sexualtrieb besteht, wie bei jeder Sucht, in der Zwanghaftigkeit der Tätigkeit. Ist jemand sexsüchtig, verfügt sie oder er nicht mehr über die Kontrolle. Nun ist ein Kontrollverlust in unserer Gesellschaft aber extrem verpöhnt und Sexualität immer noch zu großen Teilen tabuisiert, sodass sich Betroffene nicht trauen, über ihre Probleme zu reden und sich nur selten oder erst sehr spät Hilfe holen. Das Stigma, abnormal oder pervers zu sein, ist weit verbreitet. Dabei ist Sexsucht eine Krankheit und sollte auch entsprechend behandelt werden.

 

Wie findet man nun heraus, ob man an Sexsucht erkrankt ist oder einfach nur viel vögeln möchte? Die American Psychiatric Association, die wichtigste Organisation amerikanischer Psychiater, hat 2003 definiert, dass der Leidensdruck ausschlaggebend ist. Auf der Seite der Anonymen Sexaholiker Deutschland (AS) gibt es die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten anhand eines Fragenkatalogs zu untersuchen. Dabei geht es nicht darum, wie viel Sex man nun hat, sondern inwieweit der Wunsch nach Sex und das Ausleben dieses Wunsches das Leben beherrscht. Es wird gefragt, ob es nach dem Sexakt Gefühle von Schuld und Reue gibt, ob dieser wahllos passiert und ob man sich und andere oder die Arbeit vernachlässigt. Genau wie bei einer Spiel- oder Drogensucht driften die Betroffenen nämlich nach und nach immer weiter ab und realisieren irgendwann nicht mehr, wie weit sie eigentlich bereits abgerutscht sind.

In Online-Foren finden sich zahlreiche Eintragungen, die alle sehr ähnlich klingen. Die einen berichten vom ununterbrochenen Gedanken an Sex, egal, was sie gerade tun und egal, ob sie in einer Partnerschaft sind. Andere müssen mehrfach am Tag, im Schnitt alle drei bis fünf Stunden, onanieren oder suchen immer wieder Prostituierte auf, was natürlich auch finanziell belastet. Letzteres ist allerdings weiterhin stärker unter Männern verbreitet, da sich Frauen oft nicht trauen, eine*n Sexarbeiter*in aufzusuchen und eher aus- oder online gehen, um jemanden kennen zu lernen.

 

Alle Menschen suchen Nähe, Geborgenheit und Anerkennung. Sexsüchtige Frauen, ander als sexsüchtige Männer, benutzen hierfür allerdings Sex. Dabei kommt es jedoch kaum noch zu Befriedigung. Und sobald das Objekt der Begierde erobert ist, entstehen Schamgefühle. Ebenso der Wunsch nach noch mehr. Die Suche nach Liebhaber*innen basiert nicht mehr auf Freiheit, sondern gleicht eher einer Jagd. Das Bedürfnis nach Bestätigung steigt, das Empfinden von Lust sinkt hingegen. Ähnlich wie bei einer Droge, muss der Konsum gesteigert werden. Um dies zu erreichen kommt, wie oben erwähnt, tägliche Masturbation und mehrstündiger Pornokonsum hinzu. Allzu oft auch tatsächliche Drogen, um wieder eine lustvolle Reaktion herbei zu führen. So kommt zur einen Sucht noch eine zweite oder dritte hinzu.

Der Unterschied zwischen der Sexsucht bei Männern und Frauen ist zum einen das tatsächliche Ausleben der Sucht mit fremden Menschen. Zum anderen gibt es bei sexsüchtigen Frauen dadurch die erhöhte Gefahr, ausgenutzt und missbraucht zu werden. Bei der wahllosen Partner*innensuche steigt die Gefahr, an gewalttätige Menschen oder gar Triebtäter*innen zu geraten. Ebenso achten Sexsüchtige oft nicht auf Verhütung, was allgemein zur Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten und bei Frauen zu ungewollten Schwangerschaften führen kann.

In dem ein oder anderen Online-Artikel findet man erschütternde Erfahrungsberichte, die sich zwar alle auch teilweise faktisch mit der Thematik auseinander setzen, gleichzeitig jedoch durch eine aufbauschende Sprache eine Skandalisierung weiter voran treiben. Der Begriff "Nymphomanin", der gerne verwendet wird, ist nicht nur veraltet, sondern suggeriert auch ein lüsterhaftes Dasein. In Wirklichkeit ist es aber weniger lustvoll, als vielmehr schmerzlich. Ebenso verschwimmen durch diese Benennung wieder die Grenzen zwischen viel Lust auf Sex und einer Sexsucht. Letzteres wird gerne als Schreckgespenst behandelt, aus dem es keinen Ausweg gibt.

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Bei welchen Anlaufstellen es welche Art von Hilfe gibt, lesen Sie in Séparée No.23.

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