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Lasst uns reden

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Janina Gatzky

Christian Seidel ist Autor des Buches „Ich komme“, in dem er die männliche Sexualität sehr ausführlich am eigenen Beispiel beschreibt. Wir haben mit ihm über Gefühle, Masturbationssucht und männliche Orgasmen gesprochen.

  • Interview: Janina Gatzky
    Fotos: comfreak_pixabay.com, studio Florian Seidel

Séparée: Lieber Herr Seidel, der Untertitel zu Ihrem Buch lautet „Eine Grenzüberschreitung“. Welche Grenze überschreiten Sie mit bzw. in Ihrem Buch?

Christian Seidel: Derartig offen und detailliert über die eigene Sexualität zu sprechen, besonders als Mann, ist bis heute ein Tabu. Das ist angstbesetzt, wird verpönt. Das auf über 300 Seiten zu tun, habe ich als sehr befreiend empfunden. Befreiend von einer restriktiven, veralteten, überholten gesellschaftlich kollektiven Begrenzung.

Warum tun sich Männer – Frauen übrigens auch – so schwer damit, über ihre Sexualität zu reden?

Wir leben heute in einer um ihre Sinnlichkeit amputierten Kultur. Das Sinnliche gilt im Gegensatz zum Gewinn, zum Erfolg oder anderen rational messbaren Leistungseinheiten nicht als kollektiver Wert. Das Sinnliche ist aber keine Leistung, sondern so sind wir als Menschen: sinnlich. Das zu verleugnen, ist unmenschlich. Doch das durch die Sprache wieder zurück zu holen, würde das auf Gewinn und Erfolg gebaute Wertesystem gefährden. Bigotterweise wird bis heute dieses so genannte „Intime“ aber gepflegt, als wäre es das Allerheiligste zwischen uns. Gemeint ist mit diesem „Intimen“ immer alles Sexuelle und Emotionale. Gleichzeitig stürzen aber Lawinen an Pornos aus dem Internet über uns herein, und wir prahlen damit, wie frei und hochentwickelt unsere Kultur sei. Sich trotzdem nicht zu trauen, offen über Sex zu sprechen, das ist daher die wirkliche Perversion.

Unser Claim für das Séparée-Magazin lautet: „Erotik ist weiblich“. In diesem Sinne könnte man behaupten: Sex ist männlich. Wo sehen Sie einen grundlegenden Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Sexualität?

In der puren Empfindung sehe ich keinen Unterschied. Aber dafür in der Wahrnehmung und im Zulassen dieser Gefühle: Frauen nehmen vollständiger wahr als Männer. Weiblicher Sex ist ganz. Männlicher Sex ist aufgrund der Ausgrenzung der weiblichen Qualitäten aus der eigenen Empfindung halbgar, reduziert – wenngleich viele Männer das kaum bemerken. Weil sie das vollständigere Fühlen nicht kennen.

Sie sagen, der sexuelle Überdruck der Männer entsteht durch einen Mangel an Möglichkeiten, Emotionen auszuleben – sowohl Angst, Unsicherheit, Trauer als natürlich auch Glück, Liebe, Freude. Was können Männer tun, um in ein emotionales Gleichgewicht zu kommen?

Das Bewusstsein auf das innere Fühlen und dessen unendlich viele Feinheiten zu lenken, würde dafür nicht ausreichen. Viele Männer behaupten ja entrüstet, wenn ich so zu ihnen spreche, dass sie fühlen. Das stimmt sicher, doch was sie nicht tun, ist nach ihren Gefühlen zu handeln. Wahrnehmung alleine reicht nicht. Sie muss mit Leben angefüllt werden. Ich würde Männern daher empfehlen, im Kleinen zu experimentieren: Gefühlen Handlungen folgen zu lassen, das Bauchgefühl auszutesten, Ungewohntes auszuprobieren und währenddessen immer wieder neu auf die daraus resultierenden Gefühle zu achten, welchen wieder Handlungen folgen sollten. Daraus entsteht neues, sinnlich befriedigendes Leben.

Leidet unsere Sexualität unter den Fesseln, die gesellschaftliche Normen ihr auferlegen?

Es ist viel schlimmer. Wir kommen uns ja so unglaublich frei und hochentwickelt vor, dass wir glauben, diesbezüglich gar keine Normen mehr zu haben. Viel schlimmer als die Normen sind daher unsere Ignoranz und Arroganz unserer eigenen Sinnlichkeit gegenüber. Wir kasteien uns damit selbst. Und nehmen uns das Schönste im Leben.

Kommen wir auch ein anderes Thema zu sprechen: Wie beeinflusst Religion die männliche Sexualität?

Das fängt damit an, dass jede Religion behauptet, Gott sei ein Mann. Gleichzeitig wird das eigentlich Göttliche, nämlich die Gebärfähigkeit der Frau, also das Mütterliche, geringer geschätzt. Bildliche Auswüchse dieses zweifelhaften religiösen Sittenbildes des Christentums oder Islams, aber auch anderer Religionen, stellt die Pornographie dar: Männer ficken Frauen in stereotyper Manier, wobei man immer die Gesichter der Frauen sieht, kaum je aber die der Männer. Die Religionen prägen bis heute ein geradezu entsetzlich steinzeitliches Bild der Sexualität, in welcher die Männer eine sinnliche Scheinherrschaft ausüben, indem sie die Sinne entziehen und verpönen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Nicht selten empfand ich die Liebe als Hindernis für das volle Ausleben meiner Sexualität. Und umgekehrt wurde Sex zur Belastung für die Liebe“. Was meinen Sie damit?

Liebe und Sex werden zu sehr als verbundenes Ideal verklärt. Sie existieren auch und gerade ganz besonders separat voneinander. Auch das ist ein Resultat religiöser Doktrinen, die Männer geschaffen haben. Sowohl Liebe als auch Sex sind aber vollkommen frei voneinander. Es gibt unzählige Paare, die sich lieben, aber keinen Sex brauchen und wollen. Andere haben Sex, lieben sich aber nicht. Doch alle erleben Freude und Erfüllung dabei. Sicherlich ist die Liebe in Verbindung mit Sex eines der höchsten Glücksgefühle. Doch das sollte man nicht erzwingen, denn dann stirbt es ab – was man an den hohen Scheidungsraten sehen kann. Ich spreche mich gegen die Stereotypisierung unserer Beziehungen in diese zwei rudimentären Gattungen „Freundschaft“ und „Intimbeziehung“ aus. Es gibt unendlich viel mehr Variationen ...

Das vollständige Interview lesen Sie in Séparée No.17.

 

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